Wer Live-Musik liebt und insbesondere Swing mag, ist beim Gypsy Jazz besonders gut aufgehoben. Kleinere Live-Konzerte bestechen durch ihre lockere, fast familiäre Atmosphäre. Auf größeren Veranstaltungen dominiert oft das große technische Können der Musiker_innen. Allen gemein sind jedoch der pumpende Rhythmus und die eingängigen Melodien, die so manches Publikum in Tanzlaune, Träumerei und Ekstase versetzen. Lange fristete dieses Genre nördlich von Hamburg ein Nischendasein. Junge Kieler Formationen, wie beispielsweise The Gypsy Heartbeats, Django Galore und neuerdings das Trio Douce Ambiance wollen das jedoch ändern…

Es tut sich was in Kiel

Wollte man handgemachten Gypsy Jazz live im Norden erleben, musste man früher weiter in südliche Richtung fahren oder auf einen der raren Konzerttermine in Schleswig-Holstein lauern. Seit einiger Zeit tingeln nun aber gleich mehrere begabte Musiker_innen durch die Kneipen und Bars Kiels und Umgebung. Auch in Cafés und Antiquariaten finden ab und zu kleine Veranstaltungen statt. Der Eintritt ist dabei in der Regel frei. Stattdessen wird meist eine Hutspende erbeten. Größer angelegte Veranstaltungen sind dagegen seltener. Nur gelegentlich sind Gypsy Jazz-Gruppen beispielsweise in der Forstbaumschule, im KulturForum oder im Stattcafé zu sehen.
Es sind aber durchaus vielversprechende Talente in der Region unterwegs, die den Gypsy Jazz in wechselnden Besetzungen pflegen.
Douce Ambiance aus Kiel bestehen neben dem Flensburger Kontrabassisten Finn Strothmann aus den Brüdern Carlo und Eischly Krause. Diese beiden Kieler Jungs haben als deutsche Sinti seit frühester Kindheit den authentischen Gypsy Jazz um sich. Zahlreiche Ausnahmemusiker_innen aus der direkten Verwandtschaft vermitteln ihnen ihr musikalisches Erbe aus erster Hand. Auswärts teilte sich das junge Trio die Bühne bereits mit den Größen des Genres. Wie zuletzt Mitte September 2018 beim Sinti Musikfestival in Osnabrück.
Immer öfter kommen mittlerweile auch auswärtige Sinti Musiker_innen auf Stippvisite nach Kiel. Beispielsweise Gimanto Hoffmann aus Bremen oder Marcel Weiss aus Hamburg. Kaum in Kiel angekommen, werden dann die Gitarren gestimmt und losgelegt. Gespielt wird, wo man sich gerade befindet und mit jeder/m, der/die mithalten kann.
Der Sänger und Gitarrist Sacha Chan Yan ist beispielsweise kein Sinto. Er spielt aber gelegentlich spontan unter anderem mit dem Sinto Silvano Weiss an Orten wie der Soto´s Bar. Sie bieten dann in dieser Zusammensetzung hauptsächlich Sinti Swing im Stile Django Reinhardts dar. Auf Wunsch hat Chan Yan aber auch eine Menge Klassiker aus Rock und Pop parat. Auch bei der Kieler Gypsy Jazzcombo Django Galore spielen Nicht-Sinti mit.

Musik verbindet

Gypsy Jazz ist eine musikalische Ausdrucksweise der Manouche und Sinti Mitteleuropas, Menschen, die seit über 600 Jahren im französisch- und deutschsprachigen Raum leben und arbeiten. Neben den klassischen Sinti-Liedern, die teilweise schon seit Jahrhunderten mündlich überliefert werden, haben Manouche im französischsprachigen Raum seit Anfang des 20ten Jahrhunderts Jazzelemente und auch Jazzstandards für sich vereinnahmt und auf ihre eigene Weise interpretiert.
Obwohl der legendäre Django Reinhardt nicht der einzige war, der zur Entwicklung dieser bisher einzigen, eigenständigen europäischen Form des Jazz beigetragen hat, ist sein Einfluss als Sologitarrist unübertroffen. Nach einem Brandunfall im Jahre 1928 blieben Ringfinger und kleiner Finger der linken Hand unbeweglich. Reinhardt erarbeitete sich daraufhin nicht nur alternative Spieltechniken, sondern avancierte zu einem der schnellsten und zugleich poetischsten Instrumentalisten seiner Zeit.
Die oft anspruchsvollen Harmonien fordern den Musiker_innen einige Erfahrung, viel Übung und ein geschultes Gehör ab. Sinti-Nachkommen, die schon im Kindesalter von dieser Musik umgeben werden, sind dadurch im Vorteil. Instrumentalist_innen unterschiedlichster Herkunft, die nicht auf diesen kulturellen Hintergrund zurückgreifen können, steigen jedoch immer häufiger mit Begeisterung ins Genre ein. Denn Gypsy Jazz ist keine reine Sinti- oder Manouchedomäne mehr. Auch halten sich längst nicht mehr alle Musiker_innen sklavisch genau an die etablierten Standards. Es wird immer häufiger mit anderen Stilen experimentiert, wie beispielsweise „Weltmusik“, Latin oder mittlerweile sogar Rap. Auch kommen zunehmend Percussion oder Schlagzeug zum Einsatz. Bemerkenswert sind die bereits erfolgreichen Konzerte und Einspielungen mit Bigband-Formationen. Und auch immer mehr Frauen beschäftigen sich zunehmend erfolgreich mit Gypsy Jazz.
Erleichtert wird dies durch ein großes Repertoire an Jazzstandards, die immer wieder gern gespielt und gehört werden.
Trotzdem ist kein Konzert wie das andere. Besonders bei Intro und Ende eines Stückes kommt die improvisatorische Vorstellungskraft und Technik der Instrumentalist_innen zum Tragen.

Rhythme Futur

Vielleicht kann dieser Artikel den einen oder die andere Leser_in dazu anregen, sich online ein wenig umzuschauen und sich in diese Musik hineinzulauschen. Auf Youtube.com findet man beispielsweise eine große Anzahl internationaler, aber auch regionaler Künstler_innen. Wer hier auf den Geschmack kommt, sollte sich die oben genannten Namen merken, um diese begabten Menschen bei Gelegenheit live zu erleben.
In Kiel und Umgebung kann man übrigens auch alle genannten Musiker_innen für private- und Firmenveranstaltungen buchen. Und vielleicht finden sich in Zukunft genügend Musikliebhaber_innen in der Region, um ein eigenes Musikfestival zu etablieren, wie sie in anderen deutschen Städten schon lange Jahre üblich sind…

Autor/Fotos/Layout: Thørle Trovscile